Adressat*innen: Unterbezirkskonferenz Jusos München, Bezirkskonferenz Jusos
Oberbayern, Landeskonferenz Jusos Bayern, Parteitag SPD München, SPD Oberbayern und
SPD Bayern
Viele wirtschaftspolitische Debatten in der Bundesrepublik – und auch in der SPD und
bei den Jusos – drehen sich um die Frage nach Wachstum. Gerade im Zusammenhang mit
der sozial-ökologischen Transformation ist außerdem eine neue Position prominent
geworden, die unter dem Begriff “Degrowth” eine Schrumpfung der Wirtschaft fordert,
um planetare Grenzen einzuhalten und das Wirtschaften umweltverträglich zu machen.
Mit diesem Antrag wollen wir die Grundlage für eine klare Haltung zum Thema Wachstum
schaffen und damit die Debatte konstruktiv weiterbringen. Diese Position bezieht sich
auf die aktuell stattfindende Debatte um die sozial-ökologische Transformation, die
sich vor allem im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftssystems abspielt.
Über welches Wachstum reden wir?
Wenn heute über Wachstum gesprochen wird – egal ob Pro- oder De-Growth – dann geht es
meistens um das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Größe. Veränderungen im
inflationsbereinigten Bruttoinlandsprodukt werden bei positiver Entwicklung als
Wachstum bezeichnet. Dabei ist das Bruttoinlandsprodukt aus vielerlei Hinsicht die
falsche Metrik: Wenn beispielsweise ein Hauseigentümer sein Haus an eine andere
Person verkauft, die das Haus wiederum an den ursprünglichen Eigentümer vermietet,
ist zwar das Bruttoinlandsprodukt gestiegen, es hat sich aber qualitativ nichts
verändert.
Das BIP gibt außerdem keine Aussage darüber, in welchen Branchen Wachstum
stattgefunden hat. Gerade die große Menge überwiegend von FINTA*-Personen (Frauen,
Inter, nicht-binäre und Trans Personen)
geleistete unbezahlte Reproduktionsarbeit würde beispielsweise ein enormes
Wirtschaftswachstum generieren, wenn sie politisch gewollt professionalisiert werden
würde. Die Auswirkungen auf die Erderwärmung wären dabei enorm überschaubar.
Wirtschaftswachstum – we don’t care
Unsere Forderung ist es, eine agnostische Haltung gegenüber wirtschaftlichem Wachstum
im Sinne einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts einzunehmen. Wachstum per se ist
kein sozialistisches oder sozialdemokratisches Ziel, da alleine mehr erfasste Güter
und Dienstleistungen nicht automatisch zu mehr Wohlstand führen. Insbesondere in den
letzten Jahrzehnten ist die Vermögensungleichheit bei wachsender Wirtschaft stetig
größer geworden. Statt auf Wachstum, soll Wohlstand für alle in den Fokus rücken.
Aktiv für oder gegen Wachstum zu arbeiten, ist jeweils für sich auf unterschiedliche
Weise problematisch.
In den letzten 200 Jahren haben wir durch Steigerung von Produktion und
Ressourceneinsatz ein hohes Wohlstandsniveau in den Volkswirtschaften des globalen
Nordens geschaffen. Dies ging jedoch mit einer enormen Ausbeutung von Mensch und
Natur, insbesondere im globalen Süden einher. Eine Fortführung dieser Entwicklung –
umso mehr in der zunehmenden Geschwindigkeit – ist nicht innerhalb der planetaren
Grenzen darstellbar.
Wirtschaftspolitik muss sich daher zukünftig an anderen Zielen und nicht mehr an
einer Steigerung des BIP ausrichten: Viel entscheidender als zu messen und
vorzugeben, wie hoch der Gesamtwert aller Tauschgeschäfte in einer Volkswirtschaft
war oder sein soll, ist es, qualitative Aspekte wie die Zusammensetzung der
Wirtschaftsleistung und andere quantitative Aspekte wie den Grad der Dekarbonisierung
oder die ökonomische Gerechtigkeit in den Blick zu nehmen und als Ziele zu verfolgen.
Dabei spielt vor allem auch der individuell wahrnehmbare Wohlstand und seine Mehrung
eine Rolle. Hierfür muss auf bestehende Messgrößen zurückgegriffen werden und es
müssen zudem neue Messgrößen entwickelt werden.
Wir nehmen in der wirtschaftspolitischen Debatte aktuell vor allem zwei Positionen
wahr. Auf der einen Seite das Dogma des ständigen Wachstums und demgegenüber die
Forderung nach einem Ende des Wachstums und sogar eine Rückentwicklung der
Wirtschaft. Beide Positionen lehnen wir klar ab.
Vom aktuellen Wachstum profitiert nur das Kapital
Das Dogma des ständigen Wachstums argumentiert, dass sich durch ständiges
Wirtschaftswachstum der Wohlstand einer Volkswirtschaft vergrößern würde. Während es
zutreffend ist, dass es eine Bedingung für den Kapitalismus ist, sich auszudehnen und
zu expandieren, um die Interessen des Kapitals zu befriedigen, ist empirisch nicht
von der Hand zu weisen, dass sich in den vergangenen Jahren trotz kontinuierlichem
Wirtschaftswachstum die Einkommens- und Vermögensverteilung nicht verbessert sondern
verschlechtert hat. Kurz: Von Wachstum profitieren aktuell also nicht in erster Linie
diejenigen, die das Wachstum erwirtschaften, sondern vor allem diejenigen, die über
die Produktionsmittel verfügen und sich die Arbeitskraft anderer aneignen.
Auch das Argument, dass sich nur durch eine wachsende Volkswirtschaft – gemessen am
Bruttoinlandsprodukt – das System sozialer Sicherung finanzieren ließen, ist nicht zu
halten. Die Frage des Sozialstaats ist keine Frage des Geldes, sondern eine Frage von
real verfügbaren Ressourcen. Würde das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr steigen, so
müsste man allerdings den Anteil der Ressourcen quantitativ erhöhen, der Menschen in
sozialen Berufen und Arbeitslosen zufließt oder aber die Qualität der Ressourcen
steigern, damit Menschen in sozialen Berufen und Arbeitslose keine Wohlstandsverluste
erleiden, wenn dieser absolut erhöht werden soll.
Weiterhin wird argumentiert, dass in einer wachsenden und expandierenden Wirtschaft
quasi automatisch neue Arbeitsplätze entstehen würden und für das Ziel der
Vollbeschäftigung daher kontinuierliches Wachstum nötig sei. Doch auch dieses
Argument lässt sich widerlegen: Weil die Produktivität einzelner Arbeitskräfte pro
Zeiteinheit z.B. durch technologischen Fortschritt aber auch durch Qualifizierung
stetig steigt, ist ein Anstieg der Produktivität und damit Wirtschaftswachstum
möglich, ohne dass dies zu mehr Beschäftigung führt.
De-Growth schadet denen, die arbeiten!
Die gegenteilige Perspektive ist diejenige, die zuletzt besonders durch Ulrike
Herrmanns Buch “Vom Ende des Kapitalismus” stark gemacht wurde. Aufgrund der harten
planetaren Grenzen sei es nicht mehr möglich, im heutigen Umfang zu produzieren.
Daraus resultiere die Notwendigkeit einer Deindustrialisierung und einer Schrumpfung
der Wirtschaft, da wir über unsere Verhältnisse produzierten.
Während es richtig und wichtig ist, planetare Grenzen als Fragestellung in die
wirtschaftliche Debatte einzubeziehen, wäre diese Antwort mit einem massiven Verlust
an materiellem Wohlstand und sinnstiftender Erwerbsarbeit verbunden, zwei zentralen
Säulen unserer Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaft. Wir dürfen daher
nichts unversucht lassen, um eine Deindustrialisierung trotz Einhaltung der
planetaren Kapazitäten – sowohl in Bezug auf Emissionen als auch in Bezug auf
Ressourcenverbrauch – zu verhindern. Kurzfristig politisch herbeigeführte
Deindustrialisierung würde vor allem dazu führen, dass Arbeitnehmer*innen ihre
Arbeitsplätze verlieren und damit nicht nur in existenzielle Not geraten, sondern
auch die Teilhabe an der Gesellschaft verlieren. Ganze Regionen und Gebiete wären
bedroht, das soziale Spaltungspotential ist enorm.
Wohlstandsniveau halten ohne weiteres Wachstum innerhalb der planetaren Grenzen: Wie
soll das gehen?
Das Ziel unser wachstumgsagnostischen Haltung ist der größtmögliche Wohlstand bei
bestmöglicher Verteilung unter Einhaltung der planetaren Grenzen. Dafür braucht es
aus unserer Sicht drei konkrete Dinge:
1) Demokratische Entscheidung darüber, wofür Ressourcen und Emissionskapazitäten
verwendet werden: Schaut man sich an, welche Einkommensgruppen für welchen Anteil von
Emissionen verantwortlich sind, dann stellen wir schnell fest, dass es eine enorme
Ungerechtigkeit in der Verursachung der Klimakrise gibt. Wir wollen daher den
Ressourcenverbrauch und die Zuteilung von Emissionen demokratisch und nicht
marktwirtschaftlich entscheiden: In vielen Bereichen – Luxuskreuzfahrten, Privatjets
und ähnliches – lassen sich ohne Wohlstandsgefährdung der Vielen massive Einsparungen
vornehmen.
2) Aktive Transformation und Dekarbonisierung: Statt De-Growth braucht es aktive
Transformation. Durch aktives staatliches Handeln, hohe Investitionen und klare
Regularien ist es möglich, die Wirtschaft und auch die industrielle Produktion zu
dekarbonisieren. Die Potentiale für erneuerbare Energien sind nicht ansatzweise
ausgeschöpft, die technologischen Entwicklungen für emissionsärmere und
emissionsfreie Produktionstechniken stehen noch am Anfang. Ansätze aus der
Kreislaufwirtschaft und die Forderung nach einer Veränderung von Produktionsverfahren
hin zu einer Wiederverwendbarkeit von endlichen Rohstoffen ist nicht nur ökologisch
sondern auch demokratisch geboten, wenn wir uns nicht von rohstoffreichen,
autokratischen Staaten erpressbar machen wollen.
3) Wir wollen die Kreislaufwirtschaft: Insbesondere für die Frage der Ressourcen –
Rohstoffe etc. – ist die Kreislaufwirtschaft viel diskutiertes und auch von uns
unterstütztes Ziel. Wir wollen diesen Weg einschlagen und die Industrie durch
ordnungsrechtliche Vorgaben zur Kreislaufwirtschaft verpflichten. Aber die
Kreislaufwirtschaft allein wird dabei nicht der heilige Gral sein: Selbst bei enormen
technischen Fortschritt wird es notwendig sein, dem Wirtschaftskreislauf immer auch
neue Primärrohstoffe zuzuführen, deswegen muss die Regenerationsrate von
Primärrohstoffen in die demokratisierte Planung von Produktion integriert werden.
Deswegen ist es notwendig, dass dieser Aspekt gemeinsam mit den beiden vorgenannten
umgesetzt wird.
Die Verfolgung dieser Ziele kann sowohl zu einem positiven als auch zu einem
negativen Wirtschaftswachstum führen. Dies nehmen wir desinteressiert zur Kenntnis,
weil wir uns auf unsere anderen qualitativen Ziele konzentrieren und diese ins
Zentrum unserer Politik stellen.
Produktivkraftsteigerung ja – aber nicht wegen Wachstum sondern als Mittel zur
Arbeitszeitverkürzung
Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum – gerade aus der
marxistischen Theorie heraus – diskutiert wird ist die Frage nach der Produktivkraft
der Arbeitnehmer*innen und deren Steigerung. Dazu halten wir folgendes fest:
Es gibt viele gesellschaftliche Herausforderungen und Aufgaben, die wir auch
zukünftig nur mit menschlicher Arbeitskapazität lösen können, dies gilt
beispielsweise in der Pflege und der Bildung. Die Steigerung der Produktivkraft der
Arbeitnehmer*innen z.B. in der Industrie oder dem Dienstleistungssektor kann hierfür
Kapazitäten freisetzen. Auch Ingenieurleistungen, die für die Transformation
elementar notwendig sind, lassen sich nur mit menschlicher Arbeit erledigen. Wir
wollen die Produktivkraftsteigerung nutzen, um gesamtgesellschaftlich in der Lage zu
sein, diese Probleme mit mehr Aufmerksamkeit und Kapazität zu adressieren.
Produktivkraftsteigerung ist also für uns grundsätzlich positiv. Aber nicht, weil sie
zu einer Steigerung des Wirtschaftswachstums führt, sondern weil der Anstieg der
Produktivität ein starkes Pfund in den Händen der Arbeitnehmer*innen gegenüber
denjenigen ist, die ihre Arbeitskraft ausnutzen. Die Forderung lautet: weniger
Arbeitszeit bei gleichem Lohn. Von der Steigerung der Produktivkraft – die
gleichzeitig mit Verdichtung und damit auch mit Belastung der Beschäftigten
einhergeht – sollten vor allem die Arbeitnehmer*innen profitieren, dann ist sie für
uns auch ein erstrebenswertes Ziel.
(Nicht-)Wachstum international denken
Der globale Norden hat in den letzten Jahrhunderten im Vergleich zum globalen Süden
einen enormen Wohlstandszugewinn erlebt. Die globale Ungerechtigkeit ist dabei aber
weiter enorm. Die oben bereits genannte Demokratisierung von Ressourceneinsatz und
Emmissionsausstößen muss nicht nur national oder international innerhalb der EU
sondern global erkämpft werden. Die Geschichte ist voll von Ausbeutung des globalen
Südens. Daher ist es nur folgerichtig, dass Wohlstandssteigerungen in den kommenden
Jahren mit Priorität im globalen Süden angestrebt werden.
Der Anspruch der Menschen im globalen Süden auf eine Erhöhung ihres Wohlstands stellt
für uns eine genauso harte Grenze für unseren eigenen Ressourcenverbrauch im globalen
Norden dar, wie die planetaren Grenzen. Eine materielle Wohlstandsmehrung im globalen
Norden darf nur dann politisch gewollt und umgesetzt werden, wenn gleichzeitig die
planetaren Grenzen eingehalten werden und der materielle Wohlstand im globalen Süden
wachsen kann.
Doch sobald ein hohes materielles Wohlstandsniveau auch dort erreicht wurde, ist es
folgerichtig wie für den globalen Norden auch für den globalen Süden unsere
Sichtweise, dass andere Faktoren und Argumente in der Debatte mehr Gewicht bekommen
müssen und besser dazu geeignet sind, den Zustand von Volkswirtschaften zu
beschreiben.Wirtschaftswachstum sollte unserer Meinung nach generell nur angestrebt
werden, solange diese Zielsetzung auch zu realen, qualitativen Verbesserungen führt.
Wir erkennen an, dass diese Analyse zwar unserer sozialistischen und
internationalistischen Analyse entstammt, wir sie aber dennoch aus der
Sprecher*innenposition von Menschen aus einem ehemals kolonialisierenden Staat heraus
treffen. Deshalb und ganz generell maßen wir uns nicht an, für die Länder des
globalen Südens zu sprechen. Aufgabe unseres politischen Handelns ist es, ausreichend
große materiell-physikalische Spielräume offen zu halten, innerhalb derer die
Menschen im globalen Süden ihre eigenen politischen Entscheidungen treffen können.
Änderungsanträge
Status | Kürzel | Aktion | Seite | Zeile | AntragstellerInnen | Text | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Annahme | Ä1 zum W1 | Z. 115 | Jusos Niederbayern | Ersetze "FINTA*" durch "FLINTA*" |
Adressat*innen: Unterbezirkskonferenz Jusos München, Bezirkskonferenz Jusos
Oberbayern, Landeskonferenz Jusos Bayern, Parteitag SPD München, SPD Oberbayern und
SPD Bayern
Viele wirtschaftspolitische Debatten in der Bundesrepublik – und auch in der SPD und bei den Jusos – drehen sich um die Frage nach Wachstum. Gerade im Zusammenhang mit
der sozial-ökologischen Transformation ist außerdem eine neue Position prominent
geworden, die unter dem Begriff “Degrowth” eine Schrumpfung der Wirtschaft fordert,
um planetare Grenzen einzuhalten und das Wirtschaften umweltverträglich zu machen.
Mit diesem Antrag wollen wir die Grundlage für eine klare Haltung zum Thema Wachstum
schaffen und damit die Debatte konstruktiv weiterbringen. Diese Position bezieht sich
auf die aktuell stattfindende Debatte um die sozial-ökologische Transformation, die
sich vor allem im Rahmen des kapitalistischen Wirtschaftssystems abspielt.
Über welches Wachstum reden wir?
Wenn heute über Wachstum gesprochen wird – egal ob Pro- oder De-Growth – dann geht es
meistens um das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Größe. Veränderungen im
inflationsbereinigten Bruttoinlandsprodukt werden bei positiver Entwicklung als
Wachstum bezeichnet. Dabei ist das Bruttoinlandsprodukt aus vielerlei Hinsicht die
falsche Metrik: Wenn beispielsweise ein Hauseigentümer sein Haus an eine andere
Person verkauft, die das Haus wiederum an den ursprünglichen Eigentümer vermietet,
ist zwar das Bruttoinlandsprodukt gestiegen, es hat sich aber qualitativ nichts
verändert.
Das BIP gibt außerdem keine Aussage darüber, in welchen Branchen Wachstum
stattgefunden hat. Gerade die große Menge überwiegend von FLINTA*-Personen (Frauen,
Inter, nicht-binäre und Trans Personen)
geleistete unbezahlte Reproduktionsarbeit würde beispielsweise ein enormes
Wirtschaftswachstum generieren, wenn sie politisch gewollt professionalisiert werden
würde. Die Auswirkungen auf die Erderwärmung wären dabei enorm überschaubar.
Wirtschaftswachstum – we don’t care
Unsere Forderung ist es, eine agnostische Haltung gegenüber wirtschaftlichem Wachstum
im Sinne einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts einzunehmen. Wachstum per se ist
kein sozialistisches oder sozialdemokratisches Ziel, da alleine mehr erfasste Güter
und Dienstleistungen nicht automatisch zu mehr Wohlstand führen. Insbesondere in den
letzten Jahrzehnten ist die Vermögensungleichheit bei wachsender Wirtschaft stetig
größer geworden. Statt auf Wachstum, soll Wohlstand für alle in den Fokus rücken.
Aktiv für oder gegen Wachstum zu arbeiten, ist jeweils für sich auf unterschiedliche
Weise problematisch.
In den letzten 200 Jahren haben wir durch Steigerung von Produktion und
Ressourceneinsatz ein hohes Wohlstandsniveau in den Volkswirtschaften des globalen
Nordens geschaffen. Dies ging jedoch mit einer enormen Ausbeutung von Mensch und
Natur, insbesondere im globalen Süden einher. Eine Fortführung dieser Entwicklung –
umso mehr in der zunehmenden Geschwindigkeit – ist nicht innerhalb der planetaren
Grenzen darstellbar.
Wirtschaftspolitik muss sich daher zukünftig an anderen Zielen und nicht mehr an
einer Steigerung des BIP ausrichten: Viel entscheidender als zu messen und
vorzugeben, wie hoch der Gesamtwert aller Tauschgeschäfte in einer Volkswirtschaft
war oder sein soll, ist es, qualitative Aspekte wie die Zusammensetzung der
Wirtschaftsleistung und andere quantitative Aspekte wie den Grad der Dekarbonisierung
oder die ökonomische Gerechtigkeit in den Blick zu nehmen und als Ziele zu verfolgen.
Dabei spielt vor allem auch der individuell wahrnehmbare Wohlstand und seine Mehrung
eine Rolle. Hierfür muss auf bestehende Messgrößen zurückgegriffen werden und es
müssen zudem neue Messgrößen entwickelt werden.
Wir nehmen in der wirtschaftspolitischen Debatte aktuell vor allem zwei Positionen
wahr. Auf der einen Seite das Dogma des ständigen Wachstums und demgegenüber die
Forderung nach einem Ende des Wachstums und sogar eine Rückentwicklung der
Wirtschaft. Beide Positionen lehnen wir klar ab.
Vom aktuellen Wachstum profitiert nur das Kapital
Das Dogma des ständigen Wachstums argumentiert, dass sich durch ständiges
Wirtschaftswachstum der Wohlstand einer Volkswirtschaft vergrößern würde. Während es
zutreffend ist, dass es eine Bedingung für den Kapitalismus ist, sich auszudehnen und
zu expandieren, um die Interessen des Kapitals zu befriedigen, ist empirisch nicht
von der Hand zu weisen, dass sich in den vergangenen Jahren trotz kontinuierlichem
Wirtschaftswachstum die Einkommens- und Vermögensverteilung nicht verbessert sondern
verschlechtert hat. Kurz: Von Wachstum profitieren aktuell also nicht in erster Linie
diejenigen, die das Wachstum erwirtschaften, sondern vor allem diejenigen, die über
die Produktionsmittel verfügen und sich die Arbeitskraft anderer aneignen.
Auch das Argument, dass sich nur durch eine wachsende Volkswirtschaft – gemessen am
Bruttoinlandsprodukt – das System sozialer Sicherung finanzieren ließen, ist nicht zu
halten. Die Frage des Sozialstaats ist keine Frage des Geldes, sondern eine Frage von
real verfügbaren Ressourcen. Würde das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr steigen, so
müsste man allerdings den Anteil der Ressourcen quantitativ erhöhen, der Menschen in
sozialen Berufen und Arbeitslosen zufließt oder aber die Qualität der Ressourcen
steigern, damit Menschen in sozialen Berufen und Arbeitslose keine Wohlstandsverluste
erleiden, wenn dieser absolut erhöht werden soll.
Weiterhin wird argumentiert, dass in einer wachsenden und expandierenden Wirtschaft
quasi automatisch neue Arbeitsplätze entstehen würden und für das Ziel der
Vollbeschäftigung daher kontinuierliches Wachstum nötig sei. Doch auch dieses
Argument lässt sich widerlegen: Weil die Produktivität einzelner Arbeitskräfte pro
Zeiteinheit z.B. durch technologischen Fortschritt aber auch durch Qualifizierung
stetig steigt, ist ein Anstieg der Produktivität und damit Wirtschaftswachstum
möglich, ohne dass dies zu mehr Beschäftigung führt.
De-Growth schadet denen, die arbeiten!
Die gegenteilige Perspektive ist diejenige, die zuletzt besonders durch Ulrike
Herrmanns Buch “Vom Ende des Kapitalismus” stark gemacht wurde. Aufgrund der harten
planetaren Grenzen sei es nicht mehr möglich, im heutigen Umfang zu produzieren.
Daraus resultiere die Notwendigkeit einer Deindustrialisierung und einer Schrumpfung
der Wirtschaft, da wir über unsere Verhältnisse produzierten.
Während es richtig und wichtig ist, planetare Grenzen als Fragestellung in die
wirtschaftliche Debatte einzubeziehen, wäre diese Antwort mit einem massiven Verlust
an materiellem Wohlstand und sinnstiftender Erwerbsarbeit verbunden, zwei zentralen
Säulen unserer Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaft. Wir dürfen daher
nichts unversucht lassen, um eine Deindustrialisierung trotz Einhaltung der
planetaren Kapazitäten – sowohl in Bezug auf Emissionen als auch in Bezug auf
Ressourcenverbrauch – zu verhindern. Kurzfristig politisch herbeigeführte
Deindustrialisierung würde vor allem dazu führen, dass Arbeitnehmer*innen ihre
Arbeitsplätze verlieren und damit nicht nur in existenzielle Not geraten, sondern
auch die Teilhabe an der Gesellschaft verlieren. Ganze Regionen und Gebiete wären
bedroht, das soziale Spaltungspotential ist enorm.
Wohlstandsniveau halten ohne weiteres Wachstum innerhalb der planetaren Grenzen: Wie
soll das gehen?
Das Ziel unser wachstumgsagnostischen Haltung ist der größtmögliche Wohlstand bei
bestmöglicher Verteilung unter Einhaltung der planetaren Grenzen. Dafür braucht es
aus unserer Sicht drei konkrete Dinge:
1) Demokratische Entscheidung darüber, wofür Ressourcen und Emissionskapazitäten
verwendet werden: Schaut man sich an, welche Einkommensgruppen für welchen Anteil von
Emissionen verantwortlich sind, dann stellen wir schnell fest, dass es eine enorme
Ungerechtigkeit in der Verursachung der Klimakrise gibt. Wir wollen daher den
Ressourcenverbrauch und die Zuteilung von Emissionen demokratisch und nicht
marktwirtschaftlich entscheiden: In vielen Bereichen – Luxuskreuzfahrten, Privatjets
und ähnliches – lassen sich ohne Wohlstandsgefährdung der Vielen massive Einsparungen
vornehmen.
2) Aktive Transformation und Dekarbonisierung: Statt De-Growth braucht es aktive
Transformation. Durch aktives staatliches Handeln, hohe Investitionen und klare
Regularien ist es möglich, die Wirtschaft und auch die industrielle Produktion zu
dekarbonisieren. Die Potentiale für erneuerbare Energien sind nicht ansatzweise
ausgeschöpft, die technologischen Entwicklungen für emissionsärmere und
emissionsfreie Produktionstechniken stehen noch am Anfang. Ansätze aus der
Kreislaufwirtschaft und die Forderung nach einer Veränderung von Produktionsverfahren
hin zu einer Wiederverwendbarkeit von endlichen Rohstoffen ist nicht nur ökologisch
sondern auch demokratisch geboten, wenn wir uns nicht von rohstoffreichen,
autokratischen Staaten erpressbar machen wollen.
3) Wir wollen die Kreislaufwirtschaft: Insbesondere für die Frage der Ressourcen –
Rohstoffe etc. – ist die Kreislaufwirtschaft viel diskutiertes und auch von uns
unterstütztes Ziel. Wir wollen diesen Weg einschlagen und die Industrie durch
ordnungsrechtliche Vorgaben zur Kreislaufwirtschaft verpflichten. Aber die
Kreislaufwirtschaft allein wird dabei nicht der heilige Gral sein: Selbst bei enormen
technischen Fortschritt wird es notwendig sein, dem Wirtschaftskreislauf immer auch
neue Primärrohstoffe zuzuführen, deswegen muss die Regenerationsrate von
Primärrohstoffen in die demokratisierte Planung von Produktion integriert werden.
Deswegen ist es notwendig, dass dieser Aspekt gemeinsam mit den beiden vorgenannten
umgesetzt wird.
Die Verfolgung dieser Ziele kann sowohl zu einem positiven als auch zu einem
negativen Wirtschaftswachstum führen. Dies nehmen wir desinteressiert zur Kenntnis,
weil wir uns auf unsere anderen qualitativen Ziele konzentrieren und diese ins
Zentrum unserer Politik stellen.
Produktivkraftsteigerung ja – aber nicht wegen Wachstum sondern als Mittel zur
Arbeitszeitverkürzung
Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum – gerade aus der
marxistischen Theorie heraus – diskutiert wird ist die Frage nach der Produktivkraft
der Arbeitnehmer*innen und deren Steigerung. Dazu halten wir folgendes fest:
Es gibt viele gesellschaftliche Herausforderungen und Aufgaben, die wir auch
zukünftig nur mit menschlicher Arbeitskapazität lösen können, dies gilt
beispielsweise in der Pflege und der Bildung. Die Steigerung der Produktivkraft der
Arbeitnehmer*innen z.B. in der Industrie oder dem Dienstleistungssektor kann hierfür
Kapazitäten freisetzen. Auch Ingenieurleistungen, die für die Transformation
elementar notwendig sind, lassen sich nur mit menschlicher Arbeit erledigen. Wir
wollen die Produktivkraftsteigerung nutzen, um gesamtgesellschaftlich in der Lage zu
sein, diese Probleme mit mehr Aufmerksamkeit und Kapazität zu adressieren.
Produktivkraftsteigerung ist also für uns grundsätzlich positiv. Aber nicht, weil sie
zu einer Steigerung des Wirtschaftswachstums führt, sondern weil der Anstieg der
Produktivität ein starkes Pfund in den Händen der Arbeitnehmer*innen gegenüber
denjenigen ist, die ihre Arbeitskraft ausnutzen. Die Forderung lautet: weniger
Arbeitszeit bei gleichem Lohn. Von der Steigerung der Produktivkraft – die
gleichzeitig mit Verdichtung und damit auch mit Belastung der Beschäftigten
einhergeht – sollten vor allem die Arbeitnehmer*innen profitieren, dann ist sie für
uns auch ein erstrebenswertes Ziel.
(Nicht-)Wachstum international denken
Der globale Norden hat in den letzten Jahrhunderten im Vergleich zum globalen Süden
einen enormen Wohlstandszugewinn erlebt. Die globale Ungerechtigkeit ist dabei aber
weiter enorm. Die oben bereits genannte Demokratisierung von Ressourceneinsatz und
Emmissionsausstößen muss nicht nur national oder international innerhalb der EU
sondern global erkämpft werden. Die Geschichte ist voll von Ausbeutung des globalen
Südens. Daher ist es nur folgerichtig, dass Wohlstandssteigerungen in den kommenden
Jahren mit Priorität im globalen Süden angestrebt werden.
Der Anspruch der Menschen im globalen Süden auf eine Erhöhung ihres Wohlstands stellt
für uns eine genauso harte Grenze für unseren eigenen Ressourcenverbrauch im globalen
Norden dar, wie die planetaren Grenzen. Eine materielle Wohlstandsmehrung im globalen
Norden darf nur dann politisch gewollt und umgesetzt werden, wenn gleichzeitig die
planetaren Grenzen eingehalten werden und der materielle Wohlstand im globalen Süden
wachsen kann.
Doch sobald ein hohes materielles Wohlstandsniveau auch dort erreicht wurde, ist es
folgerichtig wie für den globalen Norden auch für den globalen Süden unsere
Sichtweise, dass andere Faktoren und Argumente in der Debatte mehr Gewicht bekommen
müssen und besser dazu geeignet sind, den Zustand von Volkswirtschaften zu
beschreiben. Wirtschaftswachstum sollte unserer Meinung nach generell nur angestrebt
werden, solange diese Zielsetzung auch zu realen, qualitativen Verbesserungen führt.
Wir erkennen an, dass diese Analyse zwar unserer sozialistischen und
internationalistischen Analyse entstammt, wir sie aber dennoch aus der
Sprecher*innenposition von Menschen aus einem ehemals kolonialisierenden Staat heraus
treffen. Deshalb und ganz generell maßen wir uns nicht an, für die Länder des
globalen Südens zu sprechen. Aufgabe unseres politischen Handelns ist es, ausreichend
große materiell-physikalische Spielräume offen zu halten, innerhalb derer die
Menschen im globalen Süden ihre eigenen politischen Entscheidungen treffen können.