Wachstum stärken – Ungleichgewichte abbauen – Wirtschaftspolitik europaweit koordinieren
Die Ursachen der Euro-Krise beseitigen: Für eine tragfähige und soziale Architektur der Eurozone
Die bisherigen Lösungsansätze zur Überwindung der Eurokrise verfehlen die eigentlichen Ursachen, gehen zu Lasten der Lebens- und Arbeitsperspektiven vieler Millionen Menschen, schaffen kein ausreichendes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum und bedrohen auf diese Weise den Bestand der Währungsunion und der EU als Ganzes. Ein Auseinanderbrechen der Eurozone würde unvorhersehbare wirtschaftliche Risiken für Europa und die Weltwirtschaft bedeuten. Von der damit verbundenen politischen Dimension eines gespaltenen Europa ganz zu schweigen. Als Europapartei der ersten Stunde werden Sozialdemokraten eine Spaltung Europas niemals akzeptieren. Es ist die historische Aufgabe der SPD, neu aufkeimenden, rückwärtsgewandten Nationalismus entschlossen in die Schranken zu weisen.
Doch dazu muss Europa endlich einen sozialverträglichen Pfad aus der Eurokrise einschlagen und die gravierenden Konstruktionsfehler der Währungsunion konsequent beseitigen:
– Die Kritik an einer einseitig auf Kürzungen der Lohn- und Sozialeinkommen abzielenden Politik reicht quer durch sämtliche ökonomische Schulen, wie die Tagung der Wirtschaftsnobelpreisträger im Juli 2014 in Lindau eindrucksvoll dokumentiert hat. Europa braucht vordringlich eine gemeinsame Wachstums- und Investitionsstrategie, eine Rückkehr zum Primat der Politik gegenüber den Finanzmärkten, mehr Koordinierung und Harmonisierung sowie institutionelle Reformen. Notwendige Strukturreformen zur Überwindung von je besonderen nationalen Entwicklungsblockaden (z.B. Immobiliensektor in Spanien, effektive Verwaltungen in Italien oder Griechenland, Bekämpfung von Korruption und Steuerhinterziehung u.a.) können ihre Wirksamkeit am besten entfalten, wenn sie in eine Wachstumsstrategie eingebettet sind.
– Die Webfehler der Währungsunion bestehen in der mangelnden politischen Koordination der makroökonomischen Größen und in der Institutionalisierung einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin. Mit Blick auf die Leistungsbilanzen, die Lohn- und Inflationsentwicklung sowie auch auf die Steuerharmonisierung muss der sukzessiven Abbau der bestehenden Ungleichgewichte konsequent ins Visier genommen werden. Die wirtschafts- und steuerpolitische Integration muss entscheidend vertieft, Europa mithin zu einer echten Wirtschafts- und Sozialunion weiterentwickelt werden. Eine regelgebundene Finanzpolitik und Schuldenabbau sind in diesem Rahmen unverzichtbar. Doch genau deshalb müssen sich Sozialdemokraten in ganz Europa auf den Weg machen, eine zum Dogma geronnene und im Kern neoliberale Austeritätspolitik zu überwinden. Denn die neoliberale Wirtschaftsdoktrin generiert aufgrund ihrer einseitigen Sparfixierung viel zu wenig Investitionsdynamik und Wirtschaftswachstum. Sie versperrt damit vor allem den Krisenstaaten die Möglichkeit, sukzessive aus der Verschuldung herauswachsen zu können. Zudem geht die Austeritätspolitik immer nur zu Lasten der Lohn- und Sozialeinkommen der breiten Schichten und führt zum drastischen Abbau von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten. Europa braucht deshalb einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel für mehr Wachstum und Investitionen und eine dauerhaft tragfähige Architektur der Eurozone.
Ein sozialverträglicher Wachstumspfad aus der Eurokrise ist möglich
Ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Europa
Es kommt entscheidend darauf an, europaweit abgestimmt für mehr realwirtschaftliches Wachstum zu sorgen, damit die Staaten sukzessive aus der Verschuldung herauswachsen können. Europa braucht dringend eine europaweit koordinierte Wachstumsstrategie – etwa in Anlehnung und Fortschreibung der alten Pläne zum Ausbau der europäischen Infrastruktur von Jaques Delors. Der Juncker-Plan ist dafür kein Ersatz: Er zeigt zwar die richtige Einsicht, dass mehr Investitionen nötig sind, beschränkt sich dazu aber auf Umdeklarierung von Haushaltsmitteln und setzt auf die Hebelwirkung von Kreditmärkten, die gerade ihre Unfähigkeit erweisen, produktive Investitionen in Gang zu setzen.
Insbesondere für die Krisenländer gilt: ohne Wachstum keine Steuereinnahmen, ohne Steuereinnahmen keine erfolgreiche Konsolidierung. Diese Länder müssen deshalb wieder auf einen Wachstumspfad zurückkehren können. Dieser Weg muss durch ein europäisches Programm für öffentliche Zukunftsinvestitionen unterstützt werden. Damit ein solches Investitionsprogramm tatsächlich eine spürbare Wirkung auf die europäische Wirtschaft hätte, müsste es ausreichend groß dimensioniert sein. Das Ausgabevolumen sollte dabei mindestens ein Prozent des Euro-Zonen-BIP, also rund 100 Milliarden Euro jährlich ausmachen. Gefordert ist in diesem Zusammenhang eine investitionsfördernde Reform des Fiskalpaktes. Denn die geltenden Fiskalregeln der EU ebenso wie die
Vorgaben zur Haushaltssanierung durch die ESM-Programme und den IWF haben dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren öffentliche Ausgaben in einer Art und Weise gekürzt wurden, die das Wirtschaftswachstum in Europa sowohl von der Angebots- als auch von der Nachfrageseite stark belastet. So wurden unter anderem Ausgaben für öffentliche Investitionen in Infrastruktur ebenso massiv gekürzt wie Bildungsausgaben und öffentliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Sowohl in Deutschland als auch in der Eurozone insgesamt liegen die öffentlichen Nettoinvestitionen (also Bruttoinvestitionen abzüglich Abschreibungen für Abnutzung) nun im negativen Bereich. Sprich: die öffentliche Infrastruktur verfällt zusehends. Nach allen Erkenntnissen der neueren Wachstumstheorie sind allerdings gerade diese Ausgaben besonders wichtig für die Effizienz einer Volkswirtschaft, ihren technologischen Fortschritt und das mittelfristige Wachstumspotential. Ein europäisches Wachstumsprogramm muss deshalb entschieden daraufsetzen, diese öffentlichen, produktivitätssteigernden Ausgaben wieder zu erhöhen.
Ausgleich von Leistungsbilanzungleichgewichten durch mehr Binnennachfrage
Entscheidende Wachstumsimpulse für die Eurozone müssen von den Überschussländern ausgehen. Diese müssen ihre eigene Binnennachfrage und ihre Inlandsinvestitionen substanziell erhöhen, weil die Leistungsbilanzdefizitländer kaum eigene expansive Impulse setzen können. Vor allem Deutschland ist hier gefordert es muss seinen Niedriglohnsektor zurückdrängen, die öffentlichen Investitionen ausweiten und zudem über ein höheres Lohnniveau einen wesentlichen Beitrag zur dauerhaften Erhöhung der Binnennachfrage leisten. Der Ausgleich der Ungleichgewichte kann nur beidseitig gelingen. Denn zum einen kann eine reine Abwärtsanpassung des Preis- und Lohnniveaus in den Krisenländern der Euro-Zone nicht gewünscht sein. Preis- und Lohnsenkungen machen nämlich tendenziell die Bedienung der Schulden von Haushalten, Unternehmen und der öffentlichen Hand noch schwieriger, weil die reale Schuldenlast steigt. Dies führt zu weiteren Problemen im Bankensektor und zu einer dauerhaft gedämpften gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Zum anderen wäre eine einseitige Anpassung der Krisenländer auch alles andere als nachhaltig: Denn die Eurozone insgesamt – deren Leistungsbilanz einigermaßen ausgeglichen ist – würde dann hohe Überschüsse im Handel mit anderen Wirtschaftsregionen ausweisen und den Euro in eine massive Aufwertungstendenz bringen. Alle Bemühungen der Krisenländer, ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, würden durch eine Aufwertung konterkariert. Deshalb ist die makroökonomische Koordinierung von zentraler Bedeutung.
Steuer-, Lohn- und Sozialdumping verhindern
Die Eurozone muss eine gezielte Steuer-, Sozial- und Inflationskonvergenz anstreben. Es braucht auf hohem Niveau harmonisierte Körperschaftssteuern mit vergleichbaren steuerlichen Bemessungsgrundlagen sowie Mindestlohnkorridore und Lohnleitlinien nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Es geht darum, ein Steuer- und Lohndumping sowie die damit verbundenen unkoordinierten realen Abwertungen im Euroraum besser unterbinden zu können. Eine gemeinsame Währungsunion kann nur dann funktionieren, wenn das vereinbarte Inflationsziel von allen Mitgliedsstaaten verfolgt wird. Demnach muss gewährleistet werden, dass jedes Land seine Löhne jährlich in angemessenem Umfang steigert. Das bedeutet insbesondere, dass Krisenstaaten, welche ein zu hohes Lohnwachstum in der letzten Dekade generiert haben, nun Lohnzurückhaltung üben müssen, während in Überschussländern, insbesondere in Deutschland, Lohnzuwächse von deutlich über zwei Prozent über den Produktivitätszuwächsen realisiert werden müssen.
Europäische Regulierung des Finanz- und Bankensektors
Der Finanz- und Bankensektor muss einer strikten und europaweit wirksamen Regulierung unterzogen und die Verursacher der Finanzkrise über eine europaweite Finanztransaktionssteuer zur Tilgung der Staatsdefizite herangezogen werden. Ohne Wirtschaftswachstum kann die Konsolidierung dauerhaft nicht gelingen. Eine weitere wichtige Bedingung für erfolgreiche Konsolidierung besteht aber darin, ausreichende Steuereinnahmen zu generieren. Deshalb müssen die Krisenverursacher – die Finanzmärkte – an der Finanzierung der Krisenfolgen durch die Einführung der Finanztransaktionssteuer beteiligt werden – konzipiert mit breiter Bemessungsgrundlage und wenigen Ausnahmen. Der Steuersenkungswettbewerb bei Unternehmenssteuern ist zu beenden, auch Großkonzerne und Vermögensmillionäre müssen sich angemessen an der Finanzierung ihrer Gemeinwesen beteiligen.
Schuldentilgung nicht zu Lasten des Wachstums
Die Refinanzierung der Krisenländer muss im Tausch gegen glaubwürdige Verpflichtungen zum Schuldenabbau nachhaltig abgesichert werden wie dies etwa der Sachverständigenrat mit dem sog. Schuldentilgungsfonds vorgeschlagen hat. Die übermäßige Verschuldung der Euro-Länder jenseits einer Verschuldungsmarke von 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung kann realistisch nur in einem Zeitraum von 20 bis 25 Jahren auf Basis einer gemeinsamen Teilhaftung abgebaut werden. Mit der Gründung eines sog. Schuldentilgungsfonds nach dem Vorschlag des deutschen Sachverständigenrats kann die Haftung – anders als bei Eurobonds – zeitlich wie volumenmäßig begrenzt und mit einer „klaren, langfristigen und glaubwürdigen Verpflichtung aller teilnehmenden Länder für den Schuldenabbau“ verbunden werden. Zudem muss die unabweisbar notwendige Umschuldung Griechenlands in Angriff genommen und die Rückzahlung der Kredite an das Wirtschaftswachstum gekoppelt werden, damit Anreize für wachstumsfördernde Maßnahmen geschaffen werden.
Sparpolitik verschärft die wirtschaftlichen Probleme
Die Krisenländer haben bereits – zulasten ihres Wirtschaftswachstums – drakonische Sparmaßnahmen umgesetzt. Entgegen weitverbreiteter Annahmen hat vor allem Griechenland seine Ausgaben reduziert. Die Anzahl der öffentlichen Beschäftigten sank in Griechenland zwischen 2009 und 2014 von 907.351 auf 651.717. Das ist ein Rückgang von 25 Prozent. Das staatliche Defizit betrug im Jahr 2009 noch 15,6 Prozent. Im Jahr 20014 sank es auf -2,5 Prozent. Kein Land der Welt hat sein Staatsdefizit in einem solchen Ausmaß und in derart kurzer Zeit reduziert. Von weiteren drakonischen Sparmaßnahmen bei den Masseneinkommen ist jedoch in der gesamten Eurozone unbedingt abzusehen. Andernfalls droht jederzeit der Rückfall in schwere Rezessionen. Eine erneute Rezession in den Krisenländern würde sämtliche Konsolidierungsbemühungen nahezu aussichtslos machen. Allerdings müssen die Krisenländer ihre Ausgabenpfade bei Löhnen und Staatsausgaben noch einige Jahre verlangsamen, um ihre Defizite zu verringern. Weitere absolute Absenkungen bei Staatsausgaben oder Löhnen müssen aber vermieden werden, vielmehr sind Zuwächse zur wirtschaftlichen Stabilisierung erwünscht, sie müssen aber unterhalb der „Normalzuwachsrate“ von Produktivität plus Zielinflationsrate bleiben.
Soziale Rechte und demokratische Strukturen in der EU stärken
Die europäische Wirtschafts- und Finanzunion muss durch eine Sozialunion flankiert werden. Die sozialen Grundrechte, wie sie bereits in der EU-Grundrechtscharta angelegt sind, dürfen nicht den Marktfreiheiten im europäischen Binnenmarkt untergeordnet werden, sondern müssen ihnen vorgehen. Mit einer sozialen Fortschrittsklausel muss dieses Prinzip vertraglich im europäischen Primärrecht festgeschrieben werden. In Europa muss gelten: gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Lohn- und Sozialdumping darf kein Raum gegeben werden. Dazu müssen auch die Spielräume für Mitbestimmung in den europäischen Unternehmen erweitert, die Rechte der europäischen Betriebsräte deutlich ausgebaut werden. Arbeitnehmer aus unterschiedlichen EU-Staaten dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern müssen die Chance haben, ihre Interessen gemeinsam zu vertreten. Politisch ausgestaltet werden muss die europäische Sozialunion vor allem dadurch, dass soziale Ziele und Mindeststandards europäisch verbindlich vereinbart werden. In einem sozialen Stabilitätspakt müssen Ziele und Vorgaben für Sozial- und Bildungsausgaben gemessen am BIP der jeweiligen Staaten ebenso wie existenzsichernde Mindestlöhne in allen EU-Mitgliedstaaten gemessen am jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommen festgeschrieben werden.
Die Realisierung einer solchen Sozialunion kann nicht gelingen im Rahmen einer autokratischen Wirtschafts- und Finanzpolitik auf EU-Ebene, die ohne Mitbestimmung des Europäischen Parlaments und auch gegen den Willen der nationalen Parlamente durchgesetzt wird und dabei neben dem forcierten Sozialabbau auch Eingriffe in die Tarifautonomie und das Tarifvertragsrecht, Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst und Absenken des Mindestlohns erzwingt und mit Privatisierungsmaßnahmen neue Anlagesphären fürs Finanzkapital zulasten der Daseinsvorsorge schafft. Zugleich bemüht sich die EU, die Festlegung auf einen neoliberalen Kurs zu verstärken: mit den verschiedenen verhandelten Freihandelsabkommen, mit weiteren Versuchen, den europäischen Kapitalmarkt auszubauen und mit Fortführung einer Politik der Standortkonkurrenz zwischen den Ländern und Regionen der EU – logische Folge der angestrebten „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“.
Nicht nur in den „Krisenländern“ erweckt dieses Vorgehen den Eindruck, die „nationalen“ Interessen seien gegen die EU durchzusetzen. Dies führt zu merkwürdigen Ergebnissen wie beim Brexit – wo die Öffnung des Arbeitsmarktes zum Argument gegen die EU wurde, obwohl die britische Regierung in diesem Punkt der EU-Politik gerade nicht gefolgt war.
Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik muss als demokratischer Prozess erfolgen und nicht als technokratische Durchsetzung vermeintlicher ökonomischer Sachzwänge. Die Politik der negativen Integration, die wachsenden Wohlstand und Kohäsion von freien Wirken der Marktkräfte erwartete, ist gescheitert. Der Niedergang der europäischen Sozialdemokratie zeigt auch, dass unter diesen Voraussetzungen eine Politik des sozialen Ausgleichs nicht mehr überzeugend formuliert werden kann. Daher ist gerade die Sozialdemokratie im wirtschaftlich stärksten Land der EU gefordert, eine Alternative zu entwickeln, die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung wieder in den Mittelpunkt rückt.